Konkrete Verweisung & Lebensstellung: Risiko im BU-Vertrag?

Benjamin Friedrich erklärt einem Mann etwas
TL;DR
Die konkrete Verweisung erlaubt es Versicherern, im BU-Fall die Leistung einzustellen, wenn du einen anderen Job annimmst – unter bestimmten Bedingungen.
Einige Anbieter verzichten inzwischen auf dieses Recht.
Der Verzicht auf die konkrete Verweisung ist hauptsächlich für Berufe mit relativ einfachem Tätigkeitsprofil sinnvoll, Menschen mit komplexem Berufsbild genügt meist die Standard-Regelung im Kontext “Lebensstellung”.
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Wer sich mit der Berufsunfähigkeitsversicherung beschäftigt, stößt schnell auf den Begriff “Verweisung” – und damit einhergehend auf die beiden Möglichkeiten der abstrakten und konkreten Verweisung. Überall liest man von der Empfehlung, dass die abstrakte Verweisung im BU-Tarif deiner Wahl unbedingt ausgeschlossen sein sollte. Das tun praktisch alle modernen Tarife. Aber gilt das auch für die konkrete Verweisung?

In diesem Blogbeitrag erfährst du anhand praxisnaher Beispiele, wie die beiden Verweisungsarten funktionieren, wodurch sie sich voneinander abgrenzen und welche Rolle dieser Passus bei der Wahl deiner BU spielt. Mittlerweile gibt es Tarife, die vollständig auf die abstrakte und die konkrete Verweisung verzichten. 

Praxisbeispiel: Was steckt hinter abstrakter und konkreter  Verweisung?

Stell dir vor, du bist Projektingenieur, 35 Jahre alt, mit einem entsprechenden Studium als Grundlage und zusätzlichem MBA. Mittlerweile bist du in einer Position mit Personalverantwortung für 10 Mitarbeiter, für die du weisungsbefugt bist. Druck von oben und diverse Deadlines kollidieren mit deinen Aufgaben, den Anliegen der Mitarbeiter, für die du verantwortlich bist und deiner Familie, die zu Hause im frisch finanzierten Eigenheim lebt. Durch Stress und Termindruck manifestiert sich eine psychische Erkrankung und du wirst berufsunfähig.

Dieses Beispiel-Szenario kannst du gedanklich beliebig auf einen Arzt, Informatiker, Bauleiter oder ähnliche Positionen mit akademischem Hintergrund übertragen. Wichtig ist: Du bist auf der Karriereleiter nicht mit abgebrochenem Studium stehengeblieben, sondern kletterst sie strebsam nach oben. Warum, erfährst du gleich noch.

Du reichst aufgrund der Erkrankung den Antrag wegen Berufsunfähigkeit bei deinem Versicherer ein. Dieser könnte nun auf dich zukommen und sagen “Naja, du kannst zwar nicht mehr als Projektingenieur arbeiten, dich aber zumindest noch im REWE an die Kasse setzen, das sollte vom Stresslevel her verkraftbar sein.” Das wäre dann jedoch die viel zitierte abstrakte Verweisung und ist laut Versicherungsbedingungen nicht erlaubt. Der Versicherer muss also leisten, denn du bist bedingungsgemäß berufsunfähig und bekommst deine BU-Rente in voller Höhe ausgezahlt.

Nun ist die monatliche Zahlung zwar finanziell beruhigend, trotzdem möchtest du vermutlich wieder gesund werden und dich gut fühlen. Du begibst dich also in Therapie und unternimmst alles zur Genesung. Folglich geht es dir einige Monate später schon besser. Du bist zwar noch längst nicht vollständig gesund, aber dir fällt zu Hause so langsam die Decke auf den Kopf. Daher beschließt du, dich nach einem Job umzusehen, der nicht ganz so anstrengend wie deine alte Tätigkeit als Projektingenieur ist. Also fängst du freiwillig bei REWE an der Kasse an. Jetzt übst du also konkret eine neue Tätigkeit aus und es stellt sich die Frage, ob der Versicherer dich auf diese Tätigkeit konkret verweisen und dadurch die Zahlung der BU-Rente stoppen darf.

Genau hier setzt die konkrete Verweisung in der Berufsunfähigkeitsversicherung an. Wir befinden uns also mitten in einem BU-Fall mit laufender Auszahlung der BU-Rente und der Versicherte sucht sich freiwillig einen “einfacheren” Job als den vorherigen, um auch während der Genesung etwas zur Gesellschaft beizutragen. Das sorgt wieder für ein Einkommen und somit könnte man auf die Idee kommen, dass der Versicherer die Leistung einstellen darf.

So funktioniert(e) die konkrete Verweisung

Bis 2024 verwendete die Marktspitze in der BU die folgende, sehr kundenfreundliche und hier vereinfacht dargestellte Regelung: Der Versicherer darf aufhören zu leisten, wenn du nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (also während eines Leistungsfalls) tatsächlich wieder arbeitest – aber nur dann, wenn der neue Job auch deiner bisherigen Lebensstellung entspricht. 

Die Lebensstellung wird dabei durch zwei Faktoren definiert, die beide erfüllt sein müssen, damit eine konkrete Verweisung möglich ist:

  1. Dein Einkommen:
    Du verdienst in deinem neuen Job mindestens 80% des Gehalts, das du bei deiner ursprünglichen Tätigkeit vor Eintritt der Berufsunfähigkeit erhalten hast
  2. Dein gesellschaftliches Ansehen:
    Dein neuer Job hat eine vergleichbare gesellschaftliche Stellung wie deine ursprüngliche Tätigkeiten vor Eintritt der Berufsunfähigkeit. Hierbei werden Kriterien wie z.B. Aus- und Weiterbildungen, der akademische Grad und Mitarbeiterverantwortung zugrunde gelegt.

Daraus ergibt sich: 

  • Suchst du dir keinen neuen Beruf, leistet der Versicherer weiter. 
  • Suchst du dir einen neuen Beruf, der 70% deines Gehalts vor Eintritt des BU-Falls einbringt, leistet der Versicherer weiter. 
  • Suchst du dir einen neuen Beruf, der exakt das gleiche Gehalt einbringt, wie deine Tätigkeit vor der Berufsunfähigkeit, aber er hat nicht das gleiche gesellschaftliche Ansehen, leistet der Versicherer weiter.

Da es sich bei der Frage nach “Einkommen” und “gesellschaftlichem Ansehen” um eine UND-Regelung handelt, müssen beide Voraussetzungen erfüllt sein, damit der Versicherer die Leistung einstellen darf. 

Ist nur eins oder keines der Kriterien erfüllt, erhältst du weiterhin deine BU-Leistung. So wäre es also auch in unserem eingangs erwähnten Beispiel. Egal ob Projektingenieur, Arzt, Informatiker oder Bauleiter: Wird im Leistungsfall eine Tätigkeit als Kassierer in einem Supermarkt ausgeübt, leistet der Versicherer weiterhin. Weder das Einkommen noch das gesellschaftliche Ansehen bewegen sich auf einer Stufe mit der ursprünglich ausgeübten Tätigkeit.

2025 als Ende der konkreten Verweisung: Was bedeutet es Akademiker?

Anfang 2025 gab mit dem HDI nun ein Versicherer bekannt, im Zuge seines neuen BU-Tarifs ab sofort vollständig auf die konkrete Verweisung zu verzichten. Das heißt, dass es keine Betrachtung von Einkommen und gesellschaftlichem Ansehen mehr gibt und auch keinen Vergleich mehr zwischen dem Beruf vor Eintritt der Berufsunfähigkeit und der Tätigkeit, die später während des BU-Falls ausgeübt wird. Kurz darauf zog die Bayerische nach und präsentierte in den erneuerten BU-Bedingungen ebenfalls einen Verzicht auf die konkrete Verweisung.

Diese Neuerung erfolgt beim HDI beitragsneutral, also ohne Mehrkosten für die Versicherten. Die Bayerische setzt sie in ihrem Tarif “Prestige” um, der für ca. 18% Mehrbeitrag hinzugebucht werden kann und noch weitere Extras enthält. Stand Juni 2025 sind diese beiden Versicherer die einzigen, die den vollständigen Verzicht auf die konkrete Verweisung in ihren Versicherungsbedingungen festgeschrieben haben. Die Bedeutung für den Endkunden ist dabei ausgesprochen unterschiedlich. 

Für Ingenieure und andere Akademiker mit anspruchsvollem Tätigkeitsprofil und Personalverantwortung war es bereits in der Vergangenheit sehr schwer, vom Versicherer auf einen neu ausgeübten Beruf verwiesen zu werden. Die Hürde über das Einkommen und das gesellschaftliche Ansehen war sehr groß. Zudem lässt sich das Einkommen auch aktiv steuern, indem man sich beispielsweise schlicht einen Beruf sucht, der nur 70% des vorherigen Gehalts einbringt.

Anders sieht es bei “einfacheren” Berufsbildern ohne akademischem Hintergrund und Mitarbeiterführung aus. Hier wäre eine Verweisung im Sinne der bereits bekannten Regelung via Einkommen und Ansehen deutlich einfacher möglich. Es ist daher in diesen Berufen von Vorteil, einen BU-Tarif mit dem vollumfänglichen Verzicht auf die konkrete Verweisung zu wählen.

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BU-Tarife ohne konkrete Verweisung: sinnvoll oder überteuert?

Die Antwort lautet wie so häufig “Es kommt darauf an”. Sinnvoll ist eine BU mit vollständigem Verzicht auf die konkrete Verweisung vor allem für nicht-akademische Berufe ohne komplexes Tätigkeitsprofil und Personalverantwortung. Für alle anderen gilt eher nice-to-have. Da Stand Juni 2025 lediglich der HDI und die Bayerische einen entsprechenden Tarif anbieten, ist die Preis-Frage noch nicht abschließend zu beantworten.

Ich habe von Mitarbeitern eines Rückversicherers bestätigt bekommen, dass der Verzicht auf die konkrete Verweisung definitiv relevant für die Risikokalkulation eines Versicherers ist. Das bedeutet vereinfacht, dass diese Erweiterung des Versicherungsschutzes einen höheren Beitrag zur Folge haben sollte. Nun baut die Bayerische den vollumfänglichen Verzicht auf die konkrete Verweisung mit ca. 18% Mehrbeitrag in ihren Prestige-Tarif ein, während HDI das ohne Zusatzbeitrag macht. Ob letzteres entsprechend nachhaltig kalkuliert ist, vermag ich nicht abschließend zu beurteilen. Ich glaube jedenfalls nicht daran.

Brauchst du einen vollständigen Verzicht auf die konkrete Verweisung in deiner BU? 

Die konkrete Verweisung ist kein Randthema – sie ist ein zentraler Leistungsfilter. Seit Mitte 2025 gibt es mit dem HDI und der Bayerischen nur zwei Versicherer, die vollständig auf die konkrete Verweisung verzichten. 

Die aktuellen Produktentwicklungszyklen in der BU sind so schnell, dass mittlerweile ein paar Versicherer nachgezogen sein müssten – sind sie aber nicht. Das kann einerseits dafür sprechen, dass die “alte” Regelung mit Bezug zum Einkommen und dem Ansehen völlig ausreichend war. Andererseits trauen sich die Versicherer auch noch nicht an dieses zusätzliche Risiko heran.

Zwingend notwendig ist der vollständige Verzicht meiner Meinung nach nicht. Ich würde sogar so weit gehen, dass er den Sinn einer Berufsunfähigkeitsversicherung untergräbt. Die BU ist eine Status-Absicherung, klar. Aber wenn ich berufsunfähig bin, weil ich meinem 80.000-Euro-Job nicht mehr nachgehen kann, nur um dann während des BU-Falls einen andere Tätigkeit zu beginnen, die mir das gleiche Geld bei gleichem Ansehen einbringt, dann brauche ich sachlich gesehen keine BU-Leistung mehr.

Wir müssen uns bei Versicherungen immer vor Augen führen: Was für den einen gut ist, ist häufig schlecht für das Versicherten-Kollektiv. Natürlich ist es schön, neben den 80.000 Euro Jahresgehalt im neuen Job noch zusätzlich 3.500 Euro monatliche BU-Rente einzuheimsen. Aber diese Leistung bringen eben alle anderen Versicherten für jemanden auf, der das Geld objektiv nicht benötigt. Deshalb bin ich kein Freund der Umsetzung der HDI ohne Zusatzbeitrag, weil das Kollektiv aus meiner Sicht unnötig belastet wird. Völlig in Ordnung hingegen, wer diese Klausel bei der Bayerischen extra bezahlt. Dann ist das Risiko individuell gedeckt.  

Abschließend hat der vollständige Verzicht auf die konkrete Verweisung zweifellos Vorteile, aber bringt auch Einschränkungen mit sich:

Vorteile Einschränkungen
Du hast Planungssicherheit und kannst dich neu orientieren, ohne den Verlust der BU-Leistung zu riskieren. Die Tarife sind nicht immer günstiger – langfristig könnten höhere Leistungsquoten zu steigenden Beiträgen führen.
Der Versicherer kann die Zahlung der BU-Rente nicht mit Verweis auf eine neue Tätigkeit einstellen. Es besteht ein gewisses Missbrauchspotenzial, da Leistungen weiterlaufen, obwohl faktisch eine Arbeitsfähigkeit besteht.
Sie ist besonders sinnvoll bei weniger komplexen Berufsprofilen. Die Auswahl an Tarifen mit Verzicht ist (noch) begrenzt.


Die aktuell vorherrschende Regelung ist nach wie vor die über die Lebensstellung, d.h. über Einkommen und Ansehen. Die Marktspitze bezieht sich auf 80% des früheren Gehalts vor Eintritt der Berufsunfähigkeit. Aber Achtung: Es zählt nicht automatisch das letzte Brutto-Monatsgehalt, sondern manchmal auch der Durchschnitt der letzten 3 Jahre vor Eintritt der Berufsunfähigkeit. Das sollte im Leistungsfall beachtet werden. 

Eine belastbare Regelung zur konkreten Verweisung ist ein wichtiges Kriterium in der BU und nimmt einen entsprechenden Teil im Rahmen unserer Beratung ein. HDI und Bayerische gehen noch einen Schritt weiter, der aber für die Wenigsten das kriegsentscheidende Kriterium sein wird. 

Schlussendlich sind saubere Gesundheitsfragen, eine akribische Aufarbeitung der Gesundheitshistorie und die Gesamtqualität des Kleingedruckten in Verbindung mit der korrekten Konfiguration ausschlaggebend. Das gilt für Berufstätige ebenso wie bei einer BU für Studenten.

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